Leseprobe

Otto Winzen

Der Zahnarzt des Kaisers

I

Doktor D. war manch einem Vogel gleich:

vermochte gleichzeitig zu schlafen und zu wachen.

Hatte keine Erklärung dafür, wusste nicht,

dass es so etwas auch bei Mauerseglern,

Fregattvögeln und Basstölpeln gibt.

Vögel, die dahingleitend viel Zeit auf dem Meer verbringen.

 

Dr. D. war der Zahnarzt des Kaisers, der einzige,

der ihm neue Kronen setzen konnte, der das Innere seines

Mundes kannte wie kein anderer.

Immerhin musste er den Kaiser viele Jahre lang behandeln.

Er meinte, ihn gut zu kennen, nicht nur seine

Zähne, den Gaumen, das Zahnfleisch und die Zunge.

 

Verstieg sich gar dazu, dass er vielleicht das eine oder

andere ein klein wenig hätte beeinflussen können,

wäre er dem Kaiser gegenüber bloß mutiger gewesen.

Kaum jemand stand ihm so nah. Nur er kannte dessen Zahnfleisch

medizinisch so intim, dass es in seinen Händen lag, ob es heilte

oder sich entzündete.

Hatte Macht über Teile des Kaisers, ob es dem nun gefiel oder nicht.

Und das Gefühl, dass es diesem recht war.

 

Konnte der doch bei ihm für kurze Zeit ein Stück weit Verantwortung ablegen

wie zuvor an der Garderobe Mantel, Säbel und Hut. Nicht mehr und nicht weniger.

Bei Dr. D. war er fast privat.

Ging hier ein Stück weit auch dorthin, wohin selbst ein Kaiser zu Fuß geht.