Leseprobe

Henri Hohenemser, Die Geschichte vom Schnittlauchtopf

 

Jahrmarkt von Villarosa


Da der Blitz jetzt schon bis nach Trinidad gerast war, müssen wir für einen Moment die Zeit anhalten und wieder dahin zurückkehren, wo er vor einer Tausendstel Sekunde in die Gleise der chilenischen Andenbahn eingeschlagen hat. Ein oder zwei erwäh- nenswerte Nebengeschichten sollte ich schon erzählen, obwohl sie alle, wegen der irrwitzigen Geschwindigkeit des Blitzes, fast gleichzeitig geschehen sind.
Also, mit einem ziemlichen Knall fuhr der Blitz in die Gleise der chilenischen Andenbahn und für Sekundenbruchteile funkelte die Bahnstrecke durch die Anden, Täler und Schluchten, rauf und runter, hunderte von Kilometern weit, wie eine glitzernde Perlenkette.
Zur gleichen Zeit, aber weit entfernt in Peru, schlichen Pepe und seine kleinen Schwestern heimlich im Dunkeln über das Volksfest von Villarosa. Lange hatten sie gewartet bis die Lampions und Lichterketten abgeschaltet wurden und die lachenden und schreienden Menschen den Festplatz verlassen hatten. Die ratternde Achterbahn schlief jetzt und das mächtige Riesenrad quietschte ab und zu müde im Wind.
Zwei Tage waren sie schon unterwegs, zu Fuß, dann mit dem Bus, ein Stück stromaufwärts mit dem Boot, um einmal in ihrem Leben das berühmte Jahrmarktsfest von Villarosa zu sehen. Pepe hatte, bei seinem heiligen Ehrenwort, seinen Schwestern versprochen, es ihnen zu zeigen. In diesem Jahr war es soweit.
Als sie früh am Abend Villarosa erreichten und plötzlich die glitzernden Lichter und lachenden Menschen, die Drehorgelmusik, der Glanz der eleganten Buden und das gewaltige Riesenrad vor ihnen auftauchte, fing die kleine Nina an zu weinen. So etwas hatte sie noch nie gesehen! Ria, Pia und Lia, die Drillinge, erschraken und Mia und Ina, die beiden älteren Schwestern, hatten ebenfalls noch nie so viele Menschen gesehen. Lina, die frechste von allen, wurde ganz still und auch Pepe traute sich nicht so recht mit seinen zerrissenen Hosen unter die Leute. In sicherem Abstand setzten sie sich oben auf den Bahndamm. Ria, Pia, Lia, Mia, Ina, Lina und die kleine Nina, sprachen lange Zeit kein Wort. Mit großen Augen starrten sie auf den Festplatz. Die Lichterketten, die Menschenmenge, der Duft von Mandeln und Honig, so etwas hatten sie nie erlebt und selbst die freche Lina traute sich nicht in diesen Trubel. Bis tief in den Abend saßen sie auf dem Bahndamm und staunten über die winzigen Menschen in den kleinen Gondeln, hoch oben im Riesenrad.
Was sollten sie auch tun? Geld hatten sie nicht einen Pfennig und Mia hatte Riesenlöcher in den Strümpfen, Ina keine Schuhe und die Drillinge schämten sich auch ein bisschen, sie hatten fast keine Zähne, weil ihnen gerade die Milchzähne ausfielen. Also blieben sie auf dem Bahndamm und warteten, bis die Lichter ausgeschaltet wurden und alle Menschen gegangen waren. Dann schlichen sie hinunter.
Das Riesenrad quietschte leise im Wind und warf einen langen Schatten über den leeren Platz. Ein paar Hunde schnüffelten in Mülleimern und Lina entdeckte eine beinah volle Tüte Pommes Frites. Die Drillinge erbeuteten gebrannte Mandeln und die kleine Nina schleppte einen angebissenen Zuckerapfel und eine zerbrochene Brezel an. Pepe sammelte halbvolle Colabüchsen und Mia und Ina brachten eine Schachtel mit Erdnüssen, eine halbe Tafel Schokolade und ein Päckchen Kaugummi. Dann setzten sie sich vor eine Bude, breiteten ihre Beute aus und fingen an zu essen.
„Als die Lichter brannten und das große Rad sich drehte, war es schöner, jetzt ist es so dunkel“, sagte die kleine Nina traurig, und die Drillinge meinten, die Drehorgelmusik sei am schönsten gewesen.
„Macht die Augen zu“, sagte Pepe, „und stellt euch die Lichter und das Riesenrad einfach vor, dann hört ihr auch die Drehorgelmusik und könnt die Mandeln und den Honig riechen. Ich zaubere alles in eure Köpfe.“
Die Drillinge kicherten, machten die Augen zu und alle versuchten, sich die Lichterketten und den Duft von Mandeln und Popcorn vorzustellen.
Leise, als ob sie in ihren Köpfen entstünde, hörten sie Drehorgelmusik. Die Lichterketten leuchteten auf und quietschend setzte sich das mächtige Riesenrad in Bewegung. Die kleinen Wagen der Achterbahn schubsten sich gegenseitig an und kletterten rasselnd die Schienen hoch. Die Popcornmaschinen heizten sich auf und spuckten das Popcorn nur so durch die Luft und in den Kupferkesseln dampften die gebrannten Mandeln! Von überall war Drehorgelmusik zu hören und der Festplatz glitzerte in den buntesten Farben.
„Es funktioniert, es funktioniert!“, riefen die Drillinge, und Nina fragte: „Ist alles vorbei, wenn man die Augen wieder aufmacht?“
Pepe war sprachlos, er konnte sich das alles nicht erklären. Paarmal kniff er die Augen auf und zu, aber der Zauber hörte nicht auf.
„Wo sind die Menschen?“, fragte Nina, aber Pepe meinte nur: „Die hab ich weggelassen, ist doch besser so. Kommt, jetzt fahren wir Riesenrad!“
Jede der sieben Schwestern bekam eine eigene Gondel und kichernd und kreischend schwebten sie durch die Luft.
Was war geschehen? Gerade in diesem Moment war der Blitz aus der giftgrünen Gewitterwolke oben auf der Bahnstrecke durch die Gleise gezischt und über den Bahndamm in das Stromkabel vom Festplatz gerast. Ein kleiner Teil seiner Energie reichte schon aus, um alle die Lichterketten, Drehorgeln, das Riesenrad und die Achterbahn, alle Popcornmaschinen, und was es sonst noch gab, stundenlang mit Strom zu versorgen.
Pepe und seine sieben Schwestern fuhren endlos Riesenrad und futterten Popcorn und gebrannte Mandeln bis in den frühen Morgen. Der ganze Festplatz leuchtete nur für sie und die Drehorgeln spielten nur für die Drillinge. Aus allen Ecken tauchten Kinder auf, die auch nichts hatten, und in null Komma nix war das Riesenrad voll besetzt. Zufällig erstrahlte in diesem Augenblick ein Feuerwerk, das den Himmel bis in die Nachbarstaaten taghell in allen Farben erleuchtete und oben vom Riesenrad unbeschreiblich schön aussah. Die lange Reise hatte sich wirklich gelohnt. Das Jahrmarktsfest von Villarosa war zu recht so berühmt.

Zum Buch