Migration, Leseproben Giuseppe Bruno

Leseproben

Giuseppe Bruno, Der Zug in die Fremde

EIN ALTES REZEPT RETTET MEIN LEBEN
Mit fünf Jahren nahm mein Vater mich nach „San Nicola“ mit. Dort wächst weit und breit kein Baum, weil der Boden aus Lehm ist. Damals bekam ich zum ersten Mal einen Sonnenbrand – mit bedenklichen Konsequenzen. Er war so schlimm, dass alle dachten, ich würde sterben. Das Chinin wirkte nicht. Nach vier Tagen, in denen ich keinen Urin lassen konnte, legte man mich ins große Bett mitten ins Zimmer. Alle warteten auf meinen Tod. Schon kam Cucuzzedda8 der Dicke, unser Pfarrer, um mir die Beichte abzunehmen. Vom Bett aus kam er mir riesig vor. Dann kam das gesamte Dorf angelaufen, um mich zum letzten Mal zu sehen. Es war sehr schön im Mittelpunkt zu stehen, beziehungsweise zu liegen. Nur Vater machte mir Konkurrenz. Ich hörte die Kommentare der Nachbarn: Was für ein Pech für meinen Vater, der hätte nun keinen Stammhalter mehr. Anstatt um mich zu trauern, bedauerten die meinen Vater!
Da kam meine Oma auf die Idee, mir gekochte Zwiebeln auf den Bauch zu legen. Der Geruch sollte mich heilen. Das ging drei Tage lang, dann leerte sich die Blase ohne Chinin. Nun begann eine schöne Zeit, denn ich bekam gutes Essen. Ich habe sogar Eier bekommen, die Mama sonst für Vaters zahmes Frettchen9 reservierte. Vater war nämlich auch Jäger und hatte – wenn schon keinen Jagdhund – wenigstens ein Frettchen ...

Giuseppe Bruno, Wenn die Fremde zur Heimat wird

DIE ERSTE REISE NACH ITALIEN MIT MEINER ZUKÜNFTIGEN FRAU

Im Mai 1973 – Gabriele war im sechsten Monat schwanger – entschlossen wir uns nach Butera zu fahren. Butera, das ist mein Heimatort auf Sizilien. Ich wollte dort meine künftige Frau endlich meiner Mutter vorstellen und hoffte im Stillen auf ihren Segen, wenn sie Gaby schwanger sehen würde. Denn schließlich war es auch ihr Enkelkind, das Gaby in sich trug. Ich hoffte auf ein weiches Mutterherz.

Es war selbstverständlich, dass wir Gabys Sohn aus ihrer ersten Ehe, Holger, mitnahmen, wir konnten das achtjährige Kind schließlich nicht alleine zurücklassen. Gaby war schwanger, wir hatten ein Kind dabei und für beide war es die bisher längste Fahrt ihres Lebens. Gaby war noch nie zuvor in Italien gewesen. So konnte ich ihnen nicht die gleichen Strapazen zumuten, die ich all die Jahre gewohnt war, von wegen Durchfahren, während der Fahrt essen und keine Pausen einhalten. Ich hatte zum ersten Mal die Verantwortung übernommen, für beide während der großen Reise zu sorgen.

Unterwegs gingen wir in Restaurants essen, was ich bei meinen bisherigen Durchfahrten nie gemacht hatte. Ich fuhr von der Autobahn ab, fuhr in Städte, die an der Strecke lagen, und führte die beiden aus. Ich tat alles, um mir nicht anmerken zu lassen, dass diese Art zu rei- sen auch für mich völlig neu war – ich spielte den „Mann von Welt“.

Aber trotz all meiner Mühen, Gaby die Fahrt so angenehm wie möglich zu gestalten, blieb das Problem, dass unser Auto ein VW-Käfer war. So musste ich mir von Gaby sagen lassen, dass das Auto unbequem und die Motorengeräusche sehr laut seien, so dass man sein eigenes Wort nicht verstehen könne. Es stimmte schon – jeder, der sich noch an diese Zeit erinnert, weiß wie laut so ein Käfer werden konnte, zumal wenn sich der Motor, der sich auch noch im Heckbereich befand, auf einer so langen Strecke warm gelaufen hatte. Er klopfte und wurde immer lauter, denn schließlich ging die Fahrt bergauf und bergab. Es wurde einem Auto in dieser Zeit schon sehr viel abverlangt. Ich war aber sehr stolz auf mein Auto und begann mich im Stillen über Gabys Gemecker zu ärgern. Andererseits ich wollte mir die Stimmung nicht verderben lassen. Ich dachte, wer weiß, was in Butera noch auf mich zukommt.

DAS MEER

In Salerno, ungefähr 70 Kilometer nach Neapel, konnte man zum ersten Mal das Meer sehen. Jeder der in Italien war, weiß welch ein wun- derbarer Anblick dies ist. Aber was für ein Erlebnis war das für Gaby! Ich dachte damals, sie wird vor Freude und Überraschung verrückt. Sie sprang während der Fahrt vom Beifahrersitz auf, wedelte mit den Armen und schrie ganz aus dem Häuschen: „Guck’ mal das Meer, wie schön! Es ist ja wirklich so blau wie auf den Postkarten!“ Dabei nahm sie ständig ihre Brille von der Nase und setzte sie wieder auf. Das mach- te sie immer, wenn sie sehr aufgeregt war. Aber ich muss gestehen, sie hatte Recht. Durch ihre Augen habe ich selbst das Meer zum ersten Mal bewusst in seiner ganzen Schönheit gesehen. Es waren Augenblicke, wo ich ihr das Gemecker über meinen Käfer verzieh und wieder Hoffnung schöpfte, dass meine Entscheidung für sie und das Kind doch die einzig Richtige war. Auch das Generalkommando in Butera, so dach- te ich in solchen Momenten, würde ich überzeugen können.

Aber zuerst mussten wir noch eine Strecke von gut 1000 Kilometern fahren, begleitet von Gabys Rufen des Entzückens über das Meer.