Ankunft bei den warmen Wassern
„Noch nie konnt‘ ich so weit blicken! Was für ein Land!“
Mattia war überwältigt vom Blick in die Ferne. Sie war mit Tervin und Gernot früh aufgebrochen an diesem schönen Frühlingstag. Sie machten Rast an einem Bach auf
halber Höhe der Hügelkette. Was zuerst wie eine Lichtung aussah, war der obere Teil eines großen Feldes, das in drei Streifen sanft abfiel. Auf dem mittleren Streifen keimte frisches
Frühjahrsgrün; die beiden an der Seite sahen abgeerntet aus und harrten der Bearbeitung. Am unteren Rand des Feldes sahen sie eine dünne Rauchsäule aufsteigen und bei näherem Hinsehen einige
Hütten.
„Hier raste ich immer auf dem Weg von Matten zu den warmen Wassern.“
Gernot strich sich über den Bart, schirrte die Stute Gersimi aus, führte sie an den Bach und stellte ihr den Fresskorb mit Heu hin.
„Die Sicht ist gut heute. In den Hütten dort am Ende des Felds, da wohnen Kelten.“
„Woher weißt du das?“, fragte Tervin.
„Das weiß ich halt. Das ist Neurod, ein keltisches Dorf. Man erkennt das an den Dächern. Die sind steiler als bei uns Chatten, damit das Regenwasser besser abläuft.
Seht ihr die Hügel am Horizont? Dazwischen ein weites Tal und das Glitzern? Das ist der große Fluss; die Sugambrer nennen ihn Rhein. Er ist so breit, dass man ein Floß braucht, um auf die andere
Seite zu kommen.“
„Warst du schon auf der anderen Seite, Gernot?“
Tervin hatte Gernot auf ihrer gemeinsamen Reise schon so viele Fragen gestellt, die der Bernstein- und Fellhändler gern beantwortete. Er war froh, dass er nicht
allein reisen musste. Tervin bewunderte Gernot, der so viel wusste und so bereitwillig sein Wissen weitergab.
„Natürlich war ich auf der anderen Seite, schon oft sogar; da drüben sind doch die Römer, meine besten Kunden.“
Sie legten eine Felldecke auf eine Wiese neben dem Weg, holten Becher und den Rest vom Schwartenschinken vom Karren und begannen zu vespern: Tervin und Mattia, das
junge Paar, und Gernot, der ältere Freund von Mattias Vater Herbrand, dem Chattenfürst. Die beiden Männer waren von stattlicher Statur, Tervin mit rötlichen Locken und dünnem Bart, Gernot mit
glatten dunklen Haaren, in denen sich die ersten grauen Strähnen zeigten, und einem mächtigen Bart. Mattia war von zierlicher Gestalt und hatte langes blondes Haar, das sie in Zöpfen geflochten
trug.
Die Männer trugen Hosen aus grob gewebtem Leinen, die von einem Gürtel zusammengehalten wurden, darüber einen Leinenkittel. An kühlen Tagen zogen sie sich einen
Mantel über, der an der rechten Schulter von einer Fibel zusammengehalten wurde. Mit ihm deckten sie sich auch nachts zu. Mattia trug einen Rock und einen Kittel, ebenfalls aus Leinen, die sie
selbst angefertigt hatte. Als Fürstentochter hatte sie von klein auf gelernt,
auf ihre Kleidung zu achten und sie zu verzieren: mit Muscheln, Federn oder bunten Fäden. Ihr ganzer Stolz war der Peplos, ein fußlanges Gewand, das sie für
besondere Anlässe im Gepäck hatte.
Gernot hatte Tervin und Mattia angeboten, ihn auf der Reise zu den warmen Wassern zu begleiten, nachdem sie sich Herbrands Segen geholt hatten. Sie waren vor fünf
Tagen aufgebrochen und hatten jeden Tag eine ordentliche Strecke zurückgelegt. Heute Morgen hatten sie nur Äpfel gegessen. Der Räucherspeck tat ihnen gut. Dazu tranken sie frisches Bachwasser,
das sie etwas oberhalb von der Stelle schöpften, an der Gersimi stand.
„Erwartet dich dein Freund bei den warmen Wassern? Was wird er sagen, wenn du nicht alleine kommst?“, fragte Tervin.
„Ihr braucht euch keine Sorgen zu machen. Wehrhart ist auch ein Chatte. Er rechnet damit, dass ich im Frühjahr beim ihm vorbeikomme, wie jedes Jahr. Er kennt
Herbrand gut, er hat das Jagen bei ihm gelernt. Er wird sich freuen, seine Tochter und ihren Mann kennenzulernen.“
Sie blieben noch eine Weile sitzen und genossen den Fernblick.
„Lasst uns aufbrechen! Noch drei bis vier Stunden bis zu den warmen Wassern. Ich möchte gern bei Tag ankommen.“
Gernot pfiff zum Aufbruch. Mattia und Tervin falteten die Felldecke zusammen und packten sie auf den Wagen. Gernot nahm den Fresssack auf und spannte Gersimi wieder
ein. Dabei klopfte er dem Pferd leicht auf den Hals und sagte: „Na komm schon, bald sind wir da! Bei den warmen Wassern kannst du dich ein bisschen ausruhen.“
Sie brachen auf. Gernot führte die Stute am Zügel. Wenn der Weg breit genug war, gingen Mattia und Tervin neben ihm, Mattia zwischen den beiden Männern. Die jungen
Leute waren noch nie so lange gelaufen. Die Märsche waren anstrengend. Abends sanken sie erschöpft in tiefen Schlaf unter dem Pferdekarren, wo sie sich eine Schlafstatt aus Fellen herrichteten.
Gernot schlief auf dem Karren auf den verbliebenen Fellen.
Für ihre Reise hatte Mattia nach Anweisungen Gernots neue Bundschuhe angefertigt. Er hatte diese Art bei den Römern gesehen und lief selbst nur noch in solchen
Schuhen. Sie waren bequemer und benötigten sogar weniger Leder als die Üblichen, aber mehr Sorgfalt bei der Herstellung. An der Oberseite hatte Mattia, wie bei Gernots Schuhen, lange Laschen in
das Leder geschnitten, durch die ein Lederriemen gezogen wurde; so konnte der Schuh der Fußform angepasst und fest verschlossen werden. Mattia hatte Innensohlen aus trockenem Baummoos
hergestellt, die sie in die Schuhe legten; so spürten sie kaum, wenn spitze Steinchen auf dem Weg lagen. Wenn ihre Füße geschwollen waren, lockerten sie bei einer Rast einfach die Schuhriemen ein
wenig. Nur einmal, am späten Nachmittag ihres zweiten Reisetags, konnte Mattia nicht weiter und musste auf den Karren.
Die Stute Gersimi und das Pferdefuhrwerk waren Gernots wichtigster Besitz, um seinen Handel betreiben zu können. Es war ein Einspänner mit einer Ladefläche und einem
leichten Aufbau aus Weidenholz, über den er eine Lederdecke zum Schutz gegen Wind und Regen ziehen konnte. Vorn am Karren war eine Gabel festmontiert, in die das Pferd eingespannt wurde. An der
Gabel waren zwei Stützhölzer befestigt, die er herunterklappte, wenn der Wagen stand. Die Ladefläche war dann fast in der Waage, mit leichtem Gefälle nach vorn, so dass er bequem darauf schlafen
konnte.
Das Besondere aber waren die beiden Räder, die jeweils zwölf Speichen hatten und dadurch wesentlich leichter waren als die sonst üblichen, die aus massiven
Holzscheiben bestanden. Gernot hatte die Speichenräder im letzten Jahr von einem suebischen Stellmacher anfertigen lassen, der in dem ganzen Land, das die Römer Germanien nannten, für die
Qualität seiner Räder berühmt war und sogar die Römer belieferte.
Auf dem Karren befanden sich das Reisegepäck und die Waren, mit denen Gernot handelte. Das waren Felle und Häute, im Augenblick nur drei Rehfelle, zwei gegerbte
Wildschweinhäute und ein Hirschfell. Gernot hoffte, seine Bestände bei seinem Freund Wehrhart auffüllen zu können. Des Weiteren hatte er Amulette und Schmuck bei sich. Es waren kleine Gegenstände
von hohem Wert: hauptsächlich Bernsteine in allen möglichen Formen und Farben, roh und geschliffen, mit und ohne Einschlüsse, aber auch Geweihstangen, seltene Knochen und Gänsefedern. Auch führte
er, wenn er die Gelegenheit dazu hatte, immer Honig und Trockenfleisch mit sich, Waren, mit denen er sowohl handelte, die er aber auch gut als Wegzehrung gebrauchen konnte.
In den letzten Jahren hatte sich sein Handel mit den Römern gut entwickelt, vor allem der mit Bernstein und Gänsefedern. Bernstein schätzten die Römer sehr als
Geschenk für ihren Imperator, aber auch für ihre Mütter und Frauen in Rom. Die Gänsefedern spitzten sie an, tauchten sie in schwarze oder rote Farbe, die sie Tinta nannten, und machten damit
kunstvolle Zeichen auf dünnes Leder oder ein Material, das sie Papyrus nannten. Sie sagten, sie schreiben alles Wichtige auf, damit sie es nicht vergessen. Gernot hatte verstanden, dass sie die
dünneren Federn in eine Art Säcke stopften, die sie nachts unter ihren Kopf legten.
Neu war, dass die Römer nicht Ware gegen Ware tauschten, sondern Münzen hatten, die sie Sesterzen nannten, mit denen sie die Waren bezahlten. Gernot war am Anfang
sehr skeptisch gewesen. Inzwischen fand er aber das Münzgeld sehr praktisch: Er konnte mit den Münzen alle Waren einkaufen, die in Germanien begehrt waren, vor allem die Becher und Gefäße aus
Metall, Äxte, Messer und Fibeln. Gernots Handelskunst bestand darin, mit Germanen Waren zu tauschen und mit Römern Geldhandel zu betreiben.
Jetzt führte er zum ersten Mal vier Wisenthörner, mehrere sehr große Zähne und einige Dutzend dicke Schwanzhaare vom Wisent mit sich, neue Waren deren Wert und
Verkäuflichkeit er bei dieser Reise feststellen wollte. Während die sperrigen und billigen Waren offen auf der Ladefläche lagen, waren die kleinen Kostbarkeiten versteckt im doppelten Boden. Die
Ladefläche bestand nämlich aus zwei Schichten mit einem Abstand von einer Faust; in dem Zwischenraum konnten in Schubladen flache Waren und Leder- oder Leinensäckchen mit Schmuck verstaut werden.
Der Zwischenraum, verschlossen und verkeilt mit Brettchen, war von außen unsichtbar.
Der Weg war nun leicht abschüssig und führte durch einen Wald mit hohen Buchen. Ab und zu kamen ihnen Menschen entgegen, selten allein, oft zu zweit oder zu dritt.
Man grüßte sich im Vorbeigehen, in der Regel ohne etwas zu sagen. Gernot hob dazu den angewinkelten Arm, die Hand etwas seinen Kopf überragend. Die offene Handfläche war dabei dem
Entgegenkommenden zugewandt und winkte leicht. Meistens kamen die Fremden von links entgegen; dann hob Gernot seinen rechten Arm. Kamen sie von der rechten Seite, ergriff er rasch den Zügel mit
der Rechten und winkte ihnen mit seinem linken Arm zu. Tervin und Mattia hatten sich diese Grußgesten auf der Reise von Gernot abgeschaut und machten sie gern nach.
„Erst müsst ihr die Entgegenkommenden genau beobachten“, hatte ihnen Gernot die Kunst des Grüßens erklärt, „nicht anglotzen, am besten so, dass sie gar nicht merken,
dass sie beobachtet werden. Sind sie gut drauf und offen, könnt ihr Augenkontakt mit ihnen aufnehmen und, wenn sie diesen erwidern, den Arm zum Gruß erheben. Sind sie aber übel gelaunt und in
sich gekehrt, geht ihr besser grußlos an ihnen vorbei.“
Zwei Jungen mit erstem Anflug von spärlichem Bartwuchs kamen ihnen entgegen, beschwingt und laut scherzend. „Guude!“, riefen sie fast gleichzeitig und schauten im
Vorbeigehen neugierig die drei Reisenden und ihren Karren an.
„Aach guude!“, grüßte Gernot ohne seinen Schritt zu verlangsamen, zurück. Als Tervin und Mattia ihn fragend anblickten, erläuterte er: „Das sagen sie hier zum Gruß.
Ihr sagt in Matten: guten Morgen, guten Tag, guten Abend und gute Nacht. Hier sagen sie einfach ,Guude‘, und jeder weiß, was gemeint ist.“
„Sympathische Leute! Ach, ich freu‘ mich so auf die Leute bei den warmen Wassern, Tervin!“ Mattia war schon ganz aufgeregt.
„Es wird dir guttun, du wirst schon sehen“, gab Gernot seiner guten Stimmung Ausdruck. „Wenn es dir nicht gefällt, fahren wir wieder zurück nach Matten“, sagte
Tervin.
Er wollte die letzten Zweifel an ihrer riskanten Reise ausräumen und fuhr fort: „Gernot, du würdest uns doch wieder mitnehmen, wenn du im Herbst nach Matten
fährst?“
„Selbstverständlich, ich hatte noch nie so angenehme Reisebegleiter wie euch beide. Ich kann allerdings noch nicht mit Gewissheit sagen, ob ich im Herbst wieder über
Matten fahre.“
Seine Familie wohnte in Aulitz, einem Dorf an einem See unweit der Meeresküste, wo überwiegend Sachsen lebten. Sein Vater war Chatte, seine Mutter war vom keltischen
Stamm der Treverer. Sie hatten vor vielen Jahren den Handel mit Bernstein begonnen und sich in dem kleinen Dorf niedergelassen. Gernot hatte drei Kinder mit Gundel, einer Sächsin; das ganze Jahr
über sammelten sie fleißig Bernstein und lebten vom Fischfang. Gernot verbrachte etwa ein halbes Jahr, in der Regel die Wintermonate, zu Hause und trat im Frühjahr seine Geschäftsreise an. Im
Herbst kehrte er wieder nach Hause zurück. Einige Orte suchte er jedes Jahr auf, Orte, in denen Freunde wohnten und die Geschäfte gut liefen: Matten, Warmwasser, Mogontiacum und Augusta
Treverorum gehörten dazu; in den beiden letzten hatte er als junger Mann die Römer kennen und schätzen gelernt. Er suchte aber auch gerne Ortschaften auf, die er noch nicht kannte.
Sie bogen in ein Tal ein.
„Das ist das Tal des Schwarzbachs”, sagte Gernot. „Weiter unten fließt er mit dem Wasser der heißen Quellen zusammen. Das Wasser ist dann schön warm und man kann gut
darin baden. Das Quellwasser unten ist alleine zu heiß. Man würde sich darin verbrühen. Die Quelle des heißen Wassers wird ja auch Brühborn genannt.“
Das Tal öffnete sich, eine große Lichtung lag vor ihnen, eine Lichtung, wie sie Mattia und Tervin noch nie gesehen hatten. Mit den dichten Schilfgrasrändern sah sie
eher aus wie eine Sumpflandschaft. Libellen schwirrten durch die Luft. Der Weg war jetzt eben und etwas breiter. Auf der linken Seite immer noch Buchenwald, auf der rechten Seite des Wegs eine
kleine Böschung und dann hohes Schilfgras und Binsen.
Gegenüber sahen sie in einiger Entfernung auf einer Anhöhe die Hütten. Das Schilfgras wuchs spärlicher und gab den Blick auf eine Wasserfläche frei, einen kleinen
Teich. Mattia sprang aufgeregt ans Ufer und streckte vorsichtig ihre Hand aus.
„Es ist tatsächlich warm, so warm wie ein guter Eintopf!“, rief sie mit strahlendem Gesicht. Eine Schar von Kindern kam ihnen entgegen. Neugierig bestaunten sie das
Pferd, den Karren und die Fremden, hielten aber einen gehörigen Abstand ein. So gelangten sie umringt von einem Dutzend Jungen und Mädchen zu der Siedlung.
Die Hütten lagen auf einem zum Teich hin offenen und leicht ansteigenden halbkreisförmigen Platz, die Dächer waren mit Schilfgras gedeckt. Auf dem Platz unterhielten
sich einige Leute in der Nachmittagssonne, trugen Feuerholz auf den Schultern oder gingen vor den Hütten ihren Beschäftigungen nach. Gernot führte seinen Karren schnurstracks auf die am weitesten
vom Teich entfernte Hütte am oberen Ende des Platzes zu und grüßte die Leute nach beiden Seiten.
An der Hütte hingen einige Felle zum Trocknen. Davor stand ein großer Mann mittleren Alters, der sich an den Fellen zu schaffen machte: Es war Wehrhart. Die Männer
begrüßten sich freudig, umarmten sich und klopften sich dabei auf die Schultern. Wo er denn so lange geblieben sei, fragte Wehrhart seinen Freund Gernot, und wen er denn da mitgebracht habe.
Gernot stellte das junge Paar vor. Sie begrüßten sich nach Art der Chatten. Zunächst gaben sie sich nacheinander die Hand, dann nach kurzer Zeit legte Wehrhart als Zeichen des Vertrauens die
Linke auf die rechten Schultern Tervins und Mattias.
Wehrhart wies seinen ältesten Sohn Hartwig an, Gersimi zu versorgen, und rief seine Frau Gutmunde: „Schau‘ mal, wer gekommen ist! Der Gernot, und er hat noch zwei
junge Chatten mitgebracht.“
Gutmunde kam aus der Hütte und begrüßte die Gäste genauso freudig wie Wehrhart.
„Das trifft sich gut. Ich habe gerade einen Rehrücken im Topf. Ihr seid herzlich eingeladen!“
„Rehrücken?“, Gernot schaute überrascht Wehrhart an.
„Ja, das Reh ist mir vor zwei Tagen in die Grubenfalle gegangen“, sagte Wehrhart. „Es hat ein sehr schönes Fell, du wirst schon sehen!“
Tervin fragte Wehrhart, ob sie ein Bad in dem warmen Wasser nehmen könnten; sie seien von der langen Reise so verschwitzt.
Wehrhart blickte Gutmunde an, die antwortete: „Zum Glück ist die Luft schon recht warm heute. Es gibt zwei Stellen, wo ihr gut baden könnt. Die eine ist da unten, wo
der Schwarzbach in den Teich fließt.“ Gutmunde wies mit ihrem Arm auf den Teich am Ende des Platzes. Einige Personen standen schon im Wasser auf der anderen Seite des Teichs und wuschen sich
offensichtlich.
„Am besten geht ihr etwas weiter oben am Warmdamm baden, dort wo der Dambach in den Sumpf mündet. Das Wasser ist dort wärmer, aber nicht mehr ganz so heiß wie noch
weiter oben am Brühborn, und ihr seid unter euch. Da haben die Männer an einer Stelle den Wasserlauf etwas verbreitert. Nanna wird euch führen. Aber beeilt euch, es wird bald dunkel. Und die
Elfen nicht erschrecken!“
Sie sprach mit einem anderen Akzent als Wehrhart, etwas weicher, mit leichtem Singsang in der Stimme, wie es typisch war für Leute mit keltischen
Vorfahren.
Sie rief ihre Tochter Nanna, die schon erwachsen, aber etwas jünger als Mattia war. „Kommst du nicht mit, Gernot?“, fragte Tervin.
„Nein, ich hab‘ noch was mit Wehrhart zu besprechen. Ich geh‘ morgen baden, in aller Ruhe.“ Nanna war schon kichernd mit Mattia und Tervin unterwegs. Bald hörte man
sie tuscheln.
Gernot wandte sich an Wehrhart: „Wieviel Felle hast du dieses Mal?“
„Es müssten 20 sein, elf Hasenfelle, fünf Rehfelle, drei große Felle vom Wildschwein und ein besonders schönes vom Hirsch. Sie liegen im Schuppen! Aber bevor du sie
dir anschaust, muss ich dich etwas fragen.“
Wehrhart zog Gernot etwas zur Seite. Sie nahmen auf einem Holzstoß Platz. Gernot merkte, sein Freund hatte ein besonderes Anliegen. „Nur raus damit! Ist jemand
krank?“
„Nein, wir sind alle gesund. Den Göttern sei Dank!“
„Gernot, kannst du Hartwig mit zu den Römern nehmen? Der Junge ist jetzt soweit und muss einmal raus.“
„Ja, das seh‘ ich ein. Aber gleich zu den Römern? Dann muss er als erstes Latein lernen. Wissensdurstig ist er ja, aber wird er das können? Ich nehm‘ ihn mir morgen
mal vor. Ich selber habe ja als Auxiliar Latein gelernt. Willst du denn, dass dein Sohn bei den Römern als Auxiliar arbeitet?“
„Na ja, man hört nicht nur Gutes von den Römern. Sie sollen Krieg gegen unsere Bruderstämme führen, und ich will natürlich nicht, dass mein Sohn gegen unsere Brüder
kämpft. Vielleicht kann er dich erst einmal als dein Gehilfe begleiten. Du brauchst doch einen starken Begleiter.“
„Das trifft sich gut. Wenn es Tervin und Mattia hier gefällt, würden sie gern bleiben. Weißt du, warum sie hierher wollten? – Mattia hat selbst im Sommer immer kalte
Füße; sie ist so zierlich. Herbrand, ihr Vater, klagte mir schon vor Jahren sein Leid mit seiner klugen, aber verfrorenen Tochter. Er hoffte, das würde sich legen, wenn sie einmal verheiratet
wäre. Es wurde auch anfangs besser nach der Heirat mit Tervin, dann wurde es aber wieder schlimmer. Bei einem Metabend im letzten Herbst kamen wir auf die Idee, dass bei den warmen Wassern der
geeignete Ort für sie sein könnte. Und jetzt baten sie, mich begleiten zu dürfen. Ich brauch‘ tatsächlich einen Gehilfen, Wehrhart. Dein Sohn käme mir sehr gelegen. Aber lass uns jetzt noch die
Felle anschauen.“
Tervin, Mattia und Nanna waren inzwischen an der Badestelle angekommen. Nanna bewunderte Mattias Bundschuhe: „Die sind nicht so klobig wie unsere Fellstiefel, gerade
jetzt für die Zeit zwischen Winter und Sommer.“
„Ich habe sie selber gemacht und kann auch welche für dich machen, wenn du willst und wenn wir bleiben“, sagte Mattia und legte ihre Kleider ab. Tervin hatte sich
schon ausgezogen.
Nanna, die selber nicht badete, gab Anweisungen. Sie sollten sich zunächst auf das Gras am Rand des Wassers setzen und die Füße langsam in das warme Wasser
eintauchen ...
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