Otto Winzen, Camilla auf seinen Füssen

 

Leseprobe

 

Helden II

 

„Was war dein schrecklichstes Kindheitserlebnis?“

„Dass ich mit dreizehn Jahren die Schule abbrechen musste, um Geld für die Familie zu verdienen. Meinen Vater habe ich nie kennen gelernt. Ich wäre gerne zur Schule gegangen. Meine erste Arbeit war auf der Straße. Ich musste laut  schreien, meine Artikel anpreisen, ein Eis am Stiel mit einer Art von Zuckerwatte darum. Ich hatte eine Box mit Eiswürfeln. Meine Aufgabe war, laut zu schreien, sonst verkaufte ich nichts. Doch ich konnte nicht schreien. Den ganzen Tag bekam ich keinen Laut aus der Kehle, hatte nichts verkauft.

Am Abend kam mein Chef und sagte: ,Lass mich raten, du hast nichts gesagt. Das ist immer so am ersten Tag. Morgen wirst du schreien, was das Zeug hält.'

Von da an schrie ich meine Ware in die Welt hinaus, ganz gleich, ob es regnete oder ob die Sonne schien.

Dann habe ich Schirme auf der Straße verkauft, egal, ob es regnete oder die Sonne schien. Dann mit dem Fahrrad einen Sommer lang Eis in Blöcken ausgeliefert.

Dann rund drei Jahre lang für Bauern mit dem Fahrrad Tiere transportiert, kleine Rinder, kleine Schweine, über dreißig Kilo schwer, nur mit einem kleinen Korb hinten auf dem Fahrrad. Die Tiere durften nicht herausfallen oder entkommen.

Musste deshalb oft mein Rad schieben, um sie nicht zu verlieren und weil die Wege so schlecht waren. Hin und zurück waren es sechzig Kilometer, sechs mal die Woche.  Ich arbeitete für verschiedene Auftraggeber. Wenn das Rad kaputt war, musste ich die Tiere tragen und das Fahrrad schieben.

Dabei hätte ich lieber etwas gelernt. Es war eine Plackerei. Doch das Schlimmste war, dass ich nichts lernte, außer, wie schwer das Leben sein konnte.“

Seine Disziplin, seine Härte sich selbst gegenüber bewirkten, dass er ruhig sprach, als spräche er über das Wetter oder über die Ernte vom vorletzten Jahr.

Man konnte mit ihm kein Mitleid haben, weil er es nicht zuließ.

Es war sein Leben. Er teilte nur etwas mit, weil man ihn darum gebeten.

Doch die Geschichte gehört nicht mir, auch wenn ich sie gerade niederschreibe, sie war das Eigentum desjenigen, der sie erlebt hatte. Ich kann sie mir nicht einfach aneignen, wie andere Geschichten.

Hier sperrte sich etwas, die Schwere dieses Lebens in eine Geschichte zu überführen. Es blieb eine Distanz, die des Respekts, die Mitgefühl nicht ausschloss, dessen es aber hier nicht bedurfte.

Die Geschichte stand für sich, gehörte am Ende sogar nicht einmal mehr dem Erzähler. Gehörte einem Jungen, der mit Schweinen kämpfte, die ihm und seinem Fahrrad anvertraut waren.

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